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THTR Rundbrief Nr. 97, Februar 2005
Liebe Leserinnen und Leser!
Die Bürgerinitiative Umweltschutz Hamm wird in wenigen Monaten 30 Jahre alt und gehört damit nach den badisch-elsässischen Initiativen mit zu den ältesten noch aktiven Anti-Atom-Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland.
In dieser Sonderausgabe des THTR-Rundbriefes werden in einem Rück- und Ausblick unter anderem die lokalen Besonderheiten in Hamm und Umgebung im ersten Teil literarisch und im zweiten Teil in einer politischen Analyse dargestellt. Hierbei kommt nicht nur die Geschichte des Widerstandes der Bürgerinitiative zur Sprache, sondern ich berichte auch von den unglaublichen Hindernissen, die sich denjenigen entgegenstellten, die sich im Rat der Stadt Hamm und in der Bezirksvertretung Uentrop für die sofortige Stilllegung des Thorium-Hochtemperatur Reaktors einsetzten.
Ich habe den hier abgedruckten Text am 23. Mai 2004 als Vortrag unter dem Titel "Von unten auf! Räte-Ideen heute" in der Gustav-Heinemann-Bildungsstätte in Malente bei Lübeck gehalten. Es war eine Tagung von drei literarischen Gesellschaften: Der Erich Mühsam-, Oskar Maria Graf- und der Ernst Toller-Gesellschaft. Das Thema der Tagung lautete "Die rote Republik. Anarchie- und Aktivismuskonzepte der Schriftsteller 1918/19 und das Nachleben der Räte". In Heft 25 der Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft ist der Vortrag abgedruckt worden (Kontakt: www.buddenbrookhaus.de). Der Vortrag löste – wie zu erwarten war – intensive Diskussionen aus, da er offensichtlich mehrere wunde Punkte in der Biographie von so manchen TeilnehmerInnen angesprochen hatte. Insbesondere ehemals maoistische Kader, die später teilweise als (Bundestags-)Abgeordnete in Parteien eine neue Heimat gefunden hatten, waren irritiert. Diese Debatte fand auch in der Zeitschrift "Direkte Aktion" ihren Niederschlag.
Wichtig bleibt mir aber vor allem der in dem Vortrag angesprochene Ausblick in die Zukunft, indem Perspektiven und Möglichkeiten des Engagements für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft dargestellt werden.
Horst Blume
Von Unten auf!
Vor meinen beiden Beiträgen möchte ich zur Einführung anmerken, dass ich in Hamm/Westfalen etwa sieben Kilometer von dem Thorium-Hochtemperaturreaktor1 entfernt wohne und dieses Atomkraftwerk erzwungenermaßen zu einem wichtigen Mittelpunkt meines Lebens wurde. 1971 begannen die Betreiber mit dem Bau. Zeitgleich mit der Katastrophe in Tschernobyl im Jahre 1986 geschah auch hier direkt nach der Inbetriebnahme ein größerer Störfall in dem Hochtemperaturreaktor. Drei Jahre später wurde er nach heftigen Auseinandersetzungen stillgelegt, um heute in China, Japan und vielleicht auch in Südafrika als Reaktorlinie mit Ökosiegel eine spektakuläre weltweite Renaissance der Atomkraft einzuleiten.
Während der langen Bauzeit von 14 Jahren versuchten wir als Bürgerinitiative nach unserer Gründung im Jahre 1975 die Inbetriebnahme zu verhindern und experimentierten mit verschiedenen gewaltfreien Widerstandsformen.. Da 1984 die Kommunalwahlen stattfanden, gründeten Teile der Bürgerinitiative zusammen mit den Grünen eine kommunale Wählergemeinschaft. In der Bezirksvertretung Hamm-Uentrop, der untersten kommunalpolitischen Einheit, war ich fünf Jahre Bezirksvertreter und außerdem zwei Jahre Ratsherr in Hamm auf der nächsthöheren Ebene.
Wie schwierig sich auf diesem Gebiet der Widerstand gegen die Inbetriebnahme des Reaktors gestaltete und welche Erfahrungen ich dort gemacht habe, ist Thema des ersten Beitrages. Die politisch-theoretischen Hintergrundüberlegungen zu dieser Zeit und Schlussfolgerungen für die Zukunft sind Thema des zweiten Beitrages.
I.
Jeden Sonntag ging der Junge aus dem Haus und betrat den staubigen mit Schlaglöchern übersäten Weg, wo wochentags sein Großvater die dort liegenden Pferdeäpfel mit Hilfe einer Schüppe aufsammelte, um die Pflanzen im Garten zu düngen. Als Vierzehnjähriger konnte er nicht im entferntesten ahnen, dass bereits zu dieser Zeit Wissenschaftler und Energieunternehmen mit Hochdruck planten, in Sichtweite seines Elternhauses einen Kugelhaufenreaktor zu bauen.
Auf diesem Weg also ging der Junge zu dem Schützenheim, trat vorsichtig auf der Fußmatte den Dreck von seinen Schuhen ab, passierte den Zigarettenautomaten im Vorraum und schlich in den kleinen Saal. Er fand auf den Stuhlreihen sitzend eine Gruppe von ungefähr dreißig Menschen vor und setzte sich schüchtern auf einen unauffälligen Platz weiter hinten.
Nach kurzer Zeit begann vorne ein Mann im Talar mit monotoner Stimme zu reden. Um nicht andauernd in sein blasses Gesicht sehen zu müssen, wendete er seinen Blick zur Wand, an der einige ältere Gewehre befestigt waren, dazu zwei überkreuzte Fahnen, daneben auf Regalen stehend silberne und goldene Pokale, verziert mit eichenlaubumkränzten Zahlen und Buchstaben in Schnörkelschrift. Ergeben ließ sich der Junge im ohne ersichtlichen Grund einsetzenden Gemurmel treiben, bewegte selbst jedoch nur den Mund, ohne dabei einen Ton herauszubringen. Denn was die anderen aussprachen, würde er von sich aus niemals von sich geben. Auf ein Zeichen hin erhoben sich alle Anwesenden. Stuhlbeine quietschten peinlich auf dem Fußboden, Stühle klapperten. Nach Beendigung der Prozedur konnte der Junge endlich wieder sitzend die Pokalreihen ansehen und wie von Ferne die Stimme "du sollst nicht töten" hören, während er die Schüsse vom benachbarten Schiessstand noch im Ohr hatte.
Nachdem er die unseligen Räume drei Jahre lang nicht mehr betreten hatte, ging er jetzt freiwillig hin, obwohl er sich in dieser Umgebung unwohl fühlte. Der Vorsitzende wurde mit Genosse Dieter angesprochen. Gleich zu Beginn der Sitzung standen alle Anwesenden auf und gedachten der Verstorbenen, darunter auch seines Großvaters. Für ein fünfzigjähriges Parteijubiläum starb er ein paar Monate zu früh. "Aber", sprach Dieter, "die Geschichte geht weiter und die Enkel setzen das Werk der Alten fort". Er forderte ihn mit einem kurzen Wink auf, sich zu erheben und der Versammlung zu zeigen. Schüchtern folgte er der Aufforderung und bemerkte, wie die Augen der Anwesenden wohlgefällig auf ihm ruhten. Anschließend machten sie sich an die Arbeit, denn die Tagesordnung auf Dieters Zettel war lang. Der diesjährige Baubeginn des Thorium-Hochtemperaturreaktors in seinem Bezirk stand allerdings nicht darauf.
Noch Jahre später sandte der gleiche Ort unsichtbare Signale aus, die ihn an vergangene Zeiten erinnerten und aus seinen gewohnten Aktivitäten herausrissen. Das Gebäude entsandte sogar Boten, die ihn zu Hause, wo er sich sicher fühlte, aufschreckten und beunruhigten. Geschützt hinter der Gardine des Fensters sah er den Umzug der uniformierten Kapelle, die Marschmusik spielte. Begleitet wurde dieser Trupp von torkelnden und lallenden Menschen, die es offensichtlich genossen, in ihrem Zustand auch noch von jedermann beobachtet zu werden. Inmitten dieser armseligen Kreaturen ragte einer heraus, der einen klaren Kopf zu haben schien. Mal diesem, mal jenem gönnerhaft zuwinkte, einigen Zuschauern ein paar freundliche Worte zurief, Hände schüttelte. Laurenz Meyer, Bezirksabteilungsleiter der Vereinigten Elektrizitätswerke, übte schon mal für später. Hier, im Schatten des weithin sichtbaren Reaktorkühlturms, damals Wahrzeichen der Stadt Hamm, begann seine politische Karriere.
Der Reaktor selbst stand allerdings, wie die Hersteller versicherten, zwei Jahre vor Betriebsbeginn. Und das schon seit zwölf Jahren. Ihm bereiteten nicht so sehr unsere Demonstrationen und Gerichtsprozesse Probleme, sondern Pannen und mittlerweile der Rost. Dieser Zustand konnte nicht ewig anhalten. Irgendwann würden sie ihn tatsächlich in Betrieb nehmen wollen. Was dann?
In dem Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten, einem Vorläufer der TAZ, wurde zusammen mit 200 Anderen auch seine Anschrift als Mitherausgeber von "Der grüne Hammer - Stadtzeitung für Natur- und Umweltschutz" abgedruckt. In den nächsten Jahren erhielt er wie alle anderen Kontaktpersonen der Alternativzeitungen in gewissen Abständen verschiedene Drucksachen der Rote Armee Fraktion. Neben den üblichen Kommandoerklärungen gehörten dazu verschiedene Anleitungen zum Brückensprengen, Bombenbauen und Spurenverwischen.
Wenn der THTR wirklich so gefährlich war, wie wir selbst immer gesagt haben, durfte er unter keinen Umständen in Betrieb gehen. Wenn also nichts Anderes half, gab es da nicht noch eine Möglichkeit, von der sogar Gandhi sprach, wenn man nicht feige ein Unrecht oder ein Unglück geschehen lassen will?
Noch vor der Beladung mit den radioaktiven Brennelementen inspizierte er das Baugelände, um sich behutsam mit einem ganz bestimmten Gedanken vertraut zu machen. Das Pförtnerhäuschen mit Schranke, die teure Betonmauer, der Zaun am Kühlturm - gab es da nicht irgendwo ein Schlupfloch? Während er der Absperrung entlanglief, sprang mitten in seinen Überlegungen plötzlich ein aggressiv bellender Schäferhund auf ihn zu. Wie gut, dass da noch so ein hoher Zaun war! Dann hörte er die Stimme "hallo Horst, was machst du denn hier" rufen. - Verfixt, der Wachmann wohnte zwei Häuser weiter in seiner Straße, arbeitete der denn nicht zuletzt als Eisverkäufer? Auf jeden Fall war er hier bekannt wie ein bunter Hund. Verlegen und etwas irritiert zog er ab und tröstete sich mit dem Gedanken, dass er wegen mangelnder handwerklicher Begabung ohnehin für solche Aufgaben untauglich wäre. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen.
Weil alles demonstrieren nichts half, saß er kurze Zeit später wieder im Schützenheim. Diesmal als Wahlhelfer. Misstrauisch beäugten die anderen Parteivertreter den unwillkommenen Eindringling. Nach Jahren der Demütigungen wollte er sie endlich an ihrer empfindlichsten Stelle treffen. Ihnen ihre Macht nehmen, nur ihre eigenen Interessen durchzusetzen.
Er war ein Nichts, als er in der Fußgängerzone irgendwelchen blöden Spießern Flugblätter in die Hand drückte, deren üble Beschimpfungen ertrug und jederzeit damit rechnen musste, von ihnen körperlich angegriffen zu werden. Während sie sich ein Jahrzehnt lang von Aktion zu Aktion abstrampelten, Rückschläge scheinbar mit Gleichmut ertrugen, reagierten die Mächtigen nur mit hämischer Herablassung.
Doch jetzt, da ein kleiner Hoffnungsschimmer sich anbahnte, indem sich vielleicht fünf oder sechs Prozent der Menschen zu ihnen bekennen würden, was wenig genug wäre, läge es da nicht nahe, das bisschen Macht, das ihnen zufallen könnte, als Instrument zu nutzen?
Aus diesem Grund saß er hier und ertrug sogar die Aussicht auf die Pokale und Fahnen an den Wänden. Der Abgeordnete der anderen klammerte sich an das große Buch, in dem alle Wählerinnen und Wähler registriert und abgehakt wurden, wenn sie den Raum betraten und ihre Benachrichtigung vorlegten. Ein Anderer wachte über die auszuteilenden Wahlzettel, die Urne, die Kabinen. Alte Freunde und Spielkameraden kamen den ganzen Tag herein, grüßten ihn mit "mensch, du kandidierst ja auch!" Nachbarn erkundigten sich nach dem Befinden seiner Eltern. Eine ältere Dame, an die er sich kaum noch erinnern konnte, sprach ihn zu seinem großen Entsetzen ungeniert mit "bist du aber groß geworden" an, wünschte aber alles, alles Gute. Als er die mürrischen Gesichter der anderen Wahlhelfer sah, glaubte er zu wissen, auf dem richtigen Weg zu sein.
Außerdem gab es noch die große Politik in Nordrhein-Westfalen, die über den Reaktor mitzuentscheiden hatte. Als Relikt aus seiner längst vergangenen SPD-Zeit war er noch immer Mitglied der Naturfreunde und begann hemmungslos jahrelang auf Dutzenden von Seiten Artikel in der westfälischen Naturfreundezeitung "Kultur und Umweltschutz" zu dem sozialdemokratischen Lieblingsreaktor zu schreiben. SPD-Unterbezirkskonferenzen wurden mit Aufrufen zur Rebellion gegen die Parteiraison belästigt, während er gleichzeitig als Redaktionsmitglied der NRW-Landeszeitung der Grünen keine Gelegenheit ausliess, auf die drohende Gefahr der Inbetriebnahme des Reaktors hinzuweisen. Jedoch, viele Naturfreunde-Ortsgruppen leiteten die penetrante Nestbeschmutzung noch nicht einmal an ihre Mitglieder weiter und die Grünen vergeigten dilettantisch den Einzug ins Landesparlament und interessierten sich nur wenig für einen Reaktor, bei dem jeder Widerstand zu spät kam und Lorbeeren garantiert nicht zu erwarten waren.
Während also die erhoffte rotgrüne Koalition in seinem Land nicht zustande kam, wurde der Reaktor mit radioaktiven Brennelementen beladen. Es begannen die Nullenergieversuche. Diese gingen in die 1. Kritikalität über, und dann beginnt die Warmerprobung - doch halt stop! Jetzt wurde es aber höchste Zeit, die öffentliche Anhörung zum Katastrophenschutzplan mit der Veröffentlichung der Jodtablettenausgabestellen durchzuführen, garniert mit Sirenengeheul und Skelettgeklapper der Bürgerinitiativen.
Der Leistungsversuchsbetrieb mündete in den Netzbetrieb mit 10 Prozent Leistung, setzte sich fort mit 30, 60, 80 Prozent und dann geschah das bisher nie dagewesene. Die große Katastrophe in Tschernobyl und nur Stunden später der Störfall in unserem Reaktor mit anschließender Radioaktivitätsabgabe. Es folgten die haarsträubenden Vertuschungsversuche der Betreiber und anschließend das wütende sich Aufbäumen der Menschen:
Blockade der Hauptzufahrtstore des Reaktorgeländes mit Treckern und Anhängern, strategischem Rückzug nach zwei Tagen angesichts der Übermacht der Polizei, Großkundgebung vor dem Haupttor, erneute Blockade mit Zeltlager, Rückzug, Großkundgebung mit 7.000 Menschen, Trecker-Treck durchs Ruhrgebiet nach Düsseldorf zu den sozialdemokratischen Reaktorfreunden, Kühlturm besetzt, Verwaltungsgebäude besetzt. Jetzt begannen Ministerien und Parlamente über finanzielle Probleme und technische Schwierigkeiten zu diskutieren, der Reaktor schaffte für ein paar Tage noch 100 Prozent Leistung, ein letztes Aufbäumen der SPD-Minister, um ihren Reaktor doch noch zu retten, noch eine letzte Blockade mit Treckern und dann das endgültige Aus!
"Es wird das letzte Mal sein", dachte er, während er diesmal unter den Zuschauern in der ersten Reihe saß, um für die geleistete Arbeit während der vergangenen Legislaturperiode eine Art Dankeschön in Empfang zu nehmen. Seine Augen wanderten über die Gesichter der aufgereihten Mandatsträger. Es gab nur wenige Neue. Sitzung für Sitzung immer nur das gleiche Ritual:
Reden anhören, Hände hoch, Hände runter, die nächste Vorlage aus dem Stapel suchen, bei der Wortmeldung bewusst von der Leitung übersehen werden, das Rederecht doch noch erkämpfen, um ausnahmsweise selbst eine Rede zum THTR zu halten, den sinnlosen Weg zum Mikrophon gehen, anschließend den sinnlosen Beifall von ein paar Zuschauern hören, am nächsten Tag in der Zeitung stehen und der Reaktor läuft weiter, allenfalls unterbrochen durch eine beängstigende Anzahl meldepflichtiger Vorkommnisse und erneuter Reparaturarbeiten.
Auf seine Rede erfolgte nicht nur Widerrede, was zu verschmerzen wäre. Er wurde nicht selten durch höhnisches Gelächter der anderen Mandatsträger unterbrochen. Auch Laurenz schwatzte dann demonstrativ mit seinem Hintermann. Manche gingen ausgerechnet jetzt aufs Klo oder schnell ein Bier trinken und kamen nur wieder, um bei der Abstimmung seine Anträge niederzustimmen. Verbündete waren nirgendwo in Sicht. Zu allem Überfluss begannen einige Parlamentarier nach kurzer Zeit, ihm zu Beginn der Sitzung anbiedernd die Hand zur Begrüßung schütteln zu wollen, ohne aber ihr anschließendes Verhalten im Geringsten zu ändern. Er versuchte, sich dieser Nähe so gut es ging zu entziehen, indem er sich auf seinem Platz demonstrativ in das Lokalblatt vertiefte, das er wie einen schützenden Schild vor sich hochhob.
Endlich. Nach fünf Jahren war diese Zeit ein für alle mal vorbei! Ein letztes mal folgte er der Einladung. Für die neue Legislaturperiode wurde der Tagesordnungspunkt Nachvereidigung des Neonazis aufgerufen. Er wußte, was jetzt geschehen würde: Der zu Vereidigende würde aufstehen, Dieter, inzwischen Vorsitzender dieses Gremiums, die Bezirksvertreter, die Verwaltungsangestellten sowieso, das Publikum, sogar der Zeitungsfritze, alle würden aufstehen, nur er selbst nicht. Er würde sitzen bleiben, während der Vorsitzende das Immergleiche aufsagt, der Neonazi das Immergleiche nachspricht.
Warum war er hier? Wollte er wehmütig von einem vergangenen Lebensabschnitt Abschied nehmen? Oder war es Dienstwilligkeit für angeblich gemeinnützige Angelegenheiten, die ihn bewogen hatte, jede Einladung ernst zu nehmen, selbst diese noch? Oder war es Eitelkeit, das Bedürfnis, selbst von diesen Leuten zum Abschluss noch ein kleines bißchen Anerkennung zu erhalten?
Sein Nebenmann erhielt gerade ein Buchgeschenk für seinen "unermüdlichen Einsatz zur Beseitigung von Hundekot auf Kinderspielplätzen". Und als auch er von Dieter aufgerufen wurde und dieser ihm mit den Worten "ein sehr umstrittener Ratsherr und Bezirksvertreter, aber trotzdem alles Gute" das Päckchen zusteckte, war für ihn klar, dass er sich an diesem miesen Spiel nie wieder beteiligen würde.
II.
Vor 30 Jahren wurde im Mai 1974 die Regierung Willi Brandt gestürzt. Der neue Bundeskanzler Helmut Schmidt trug mit seiner Regierungserklärung in Bonn auf den Tag genau vor 30 Jahren die zaghaften Ansätze zur Humanisierung und Demokratisierung dieser Gesellschaft zu Grabe und stellte sich ganz in den Dienst des Kapitals.
Ebenfalls zu dieser Zeit zeigten sich etliche hundert Kilometer weiter südlich am Rhein Tausende von Menschen merkwürdig unbeeindruckt von der Auswechslung des Führungspersonals an der Spitze des Staates, denn sie hatten ein ganz konkretes Problem. Mit rund vierhundert Treckern demonstrierten sie hier gegen das geplante Atomkraftwerk in Wyhl, das ihre Lebensgrundlagen zerstören würde. Getragen wurde diese Bewegung hauptsächlich von der Landbevölkerung, der man das bisher nicht zugetraut hatte. Als provinzielle Internationalisten schlossen sie sich mit den Gegnern des geplanten Chemiewerkes in Marckolsheim auf der anderen Seite des Rheins zusammen und gründeten die badisch-elsässischen Bürgerinitiativen. Sie besetzten die jeweiligen Bauplätze und verhinderten durch ihren langanhaltenden zivilen Ungehorsam den Bau dieser Anlagen. Dieser Kampf der 40 Bürgerinitiativen wies die geballte Macht der Staatsorgane zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik in ihre Schranken und sorgte für große Aufmerksamkeit.
Der letztendliche Erfolg dieser Bewegung sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Zusammenschlüsse von ihrem Ursprung her echte Notgemeinschaften waren, die sich zur Abwehr von konkreten Bedrohungen gründeten. Menschen, die sich damals nicht an Parteien binden wollten, sondern selbstorganisiert ihre Interessen wahrnahmen, wurden vielmehr zu Parias dieses Systems, wie es Hans-Helmuth Wüstenhagen, der erste Vorsitzende des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), 1975 ausdrückte2. Zu dieser Zeit sah das deutsche Atomforum allein schon in der Forderung nach Mitspracherechten bei wichtigen Planungen anarchistische Umtriebe, die es zu verteufeln galt.
Die Bürgerinitiativen nahmen zunächst nur Rechte in Anspruch, die formal zwar existierten, aber in der Genehmigungspraxis für Großprojekte bis zur Unkenntlichkeit beschnitten worden sind. Die letztendliche Verweigerung dieser Beteiligungsrechte durch die staatlichen Institutionen führte zu Ohnmachtserfahrungen bei den Kritikern, die sehr bald in Empörung und Widerstand umschlugen.
Im Verlauf der Auseinandersetzungen verstärkten sich bei vielen Aktivisten die Zweifel an der Legitimität der parlamentarischen Repräsentationssysteme. Vor Repräsentanten, die rigoros über die Köpfe der betroffenen Bürger hinwegentschieden, verloren sie jeden Respekt. Die unmittelbaren Erlebnisse bei den Auseinandersetzungen mündeten in einen kollektiven Lernprozess. Die Erfahrungen wurden in eigenen Bildungseinrichtungen wie der Volkshochschule Wyhler Wald auf dem besetzten Bauplatz thematisiert und verarbeitet. Das Zusammenleben an diesen Orten und die politische Arbeit führte dazu, dass sich unterschiedliche Milieus und Altersgruppen besser kennen lernten und bestehende Differenzen ausgehalten und verarbeitet werden konnten. Vielen an den Aktionen beteiligten wurde klar, dass sie als Produzenten oder Konsumenten auch auf ökonomischer Ebene an dem Konflikt um die Atomenergie beteiligt waren. Als Ergebnis dieser Selbstreflektion entstanden Alternativbetriebe, ökologische Forschungsinstitute, Zukunftswerkstätten und alternative Energieanlagen.
Aus der ursprünglichen Überparteilichkeit der Bürgerinitiativen wurde mehr und mehr eine bewußt außerparlamentarische Politik, die aus Erfahrung den herrschenden Machtapparaten und Institutionen misstraute und neue Wege suchte. Der badisch-elsässische Aktivist und Musiker Walter Mossmann drückte es so aus: "Die Bürgerinitiativen sind ein selbstständiges Element in unserer politischen Kultur, und ich hätte gern, dass wir sie weiterentwickeln, quer zu sämtlichen Institutionen der politischen Willensbildung, die es gibt. Ohne diesen Widerspruch zu sämtlichen zentralistischen Instanzen, wie Staat, Parteien, Konzerne und wie die Apparate alle heißen, kann ich mir eine künftige Gesellschaft nicht vorstellen, die unsere jetzigen Probleme lösen muss"3.
Bei der eigenen Organisationsstruktur nahmen die meisten Bürgerinitiativen ihre Zielvorstellungen für eine künftige Gesellschaftsform vorweg und koordinierten ihre Aktivitäten zunächst projektbezogen in regionalen Zusammenschlüssen. Als größter Dachverband entstand der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) mit nahezu eintausend Initiativen und insgesamt etwa 200.000 Mitgliedern im Jahre 1979. Er hat bis heute seine dezentrale Organisationsstruktur erhalten4. Das heisst, jede einzelne Initiative ist selbsständig und lediglich den gemeinsamen Grundsätzen der Überparteilichkeit und Gewaltfreiheit verpflichtet. Die Hauptaufgaben dieses Verbandes liegen in der Koordination und in der Herstellung eines kontinuierlichen Informationsaustausches. Ziel war nicht die Eroberung der Macht, sondern ihr Abbau. Als Methoden wurden neben gewaltfreien Aktionen die konstruktive Arbeit für eine neue Gesellschaftsordnung propagiert. Das heißt, die Verwirklichung alternativer Lebensformen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik bis sich - ich zitiere - "aus den tausend Graswurzeln der einzelnen Initiativen allmählich ein dichter Rasenteppich bildet, der unsere Gesellschaft (...) tiefgreifend umgestaltet"5.
Der BBU war allerdings nicht der einzigste Dachverband von Bürgerinitiativen. Im Zuge der heftigen Auseinandersetzungen an den jeweiligen Standorten von geplanten Atomkraftwerken entstanden eine ganze Reihe von orts- oder regionalbezogenen Zusammenschlüssen von sehr unterschiedlichem Charakter. Die verschiedenen Parteien und Organisationen der Neuen Linken beeinflussten nicht ohne Erfolg Teile dieser Basisinitiativen. Diese wurden dann oft zum Spielball und Betätigungsfeld diverser marxistisch-leninistischer Parteien, sodass in den jeweiligen Regionen mehrere verschiedene Landes- und Regionalzusammenschlüsse nicht nur unterschiedliche Formen des Widerstandes und der politischen Arbeit praktizierten, sondern auch miteinander konkurrierten.
Die sogenannten K-Gruppen versuchten mit aller Macht, den Bürgerinitiativen ihr eigenes autoritär geprägtes Revolutionsmodell überzustülpen, indem sie gewaltförmig-militärische Kampfformen und eine zugespitzt verbalradikale Kapitalismuskritik durchzusetzen versuchten. Demgegenüber legten insbesondere die einheimischen Bürgerinitiativen an den Standorten viel Wert darauf, dass ihre gewaltfreien Kampfmethoden, Strategien und ihre Außendarstellung für die Mehrheit der Bevölkerung nachvollziehbar waren und sich an den eigenen Erfahrungen und gemeinsam vereinbarten Zielen orientierten.
Insbesondere der Kommunistische Bund (KB)6 aus Hamburg nutzte die entstehenden Bürgerinitiativen als einzuverleibende Rekrutierungsmasse und gründete aus den Regionalkonferenzen der Anti-AKW-Bewegung heraus seine Kaderorganisationen. Mit fragwürdigen Methoden manipulierte dieser maoistische Bund die Zusammensetzung der Delegiertenversammlungen, um sie in den Dienst seiner eigenen politischen Ziele zu stellen. Holger Strohm hat in seinem Klassiker "Friedlich in die Katastrophe"7 nachgewiesen, dass diese Organisation mit zahllosen Briefkasteninitiativen die Existenz von Gruppen nur vorgetäuscht hat, um mit diesen Mandaten skrupellos die eigene Machtposition auszubauen. So ist es ganz gewiss kein Zufall, dass nach dem Zerfall dieses marxistisch-leninistischen Bundes zahlreiche seiner ehemaligen Mitglieder in die führenden Positionen von Grünen und später der PDS bis hin zu Ministerposten aufrückten, weil sie die Methoden der Machtaneignung bereits in der Bürgerinitiativbewegung zu genüge erprobt hatten.
Die über dreißigjährige Geschichte der Bürgerinitiativbewegung zeigt uns, dass Bewegung nicht immerzu anhalten kann, dass Teilerfolge und zeitweilige Niederlagen einander folgen, dass es Phasen der Erschöpfung, der Resignation und der Neuorientierung gibt. Die Entwicklung erfolgt nicht linear, sondern befindet sich in einem immerwährenden Auf und Ab.
Im Unterschied zur Rätezeit nach dem 1. Weltkrieg, wo versucht wurde, mit einem Schlag in einem bestimmten Gebiet möglichst viele Bereiche der politischen Machtausübung umzuformen, agieren heute verschiedenste Bürgerinitiativen als Ein-Punkt-Bewegung innerhalb einer mehr oder weniger ausgeprägten parlamentarischen Demokratie. Es ist das erklärte Ziel von sozialen Bewegungen, konkrete Missstände zu beseitigen und die Machtverhältnisse, die hierzu geführt haben, zu verändern. Sie wollen hierbei nicht nur eine neue Lobbyorganisation schaffen, sondern im Aufbau und in der Vernetzung von unabhängigen Basisgruppen politische Kompetenz und Einflussmöglichkeiten zurückerobern.
Hierbei zeigt sich oft das Problem, dass viele Aktivisten zwei bis drei Jahre nach dem Start der Bewegung das Gefühl haben, dass sie erfolglos gewesen seien und ziehen sich enttäuscht und ausgebrannt wieder zurück. Dieses Phänomen hat Bill Moyer, Trainer und Strategieentwickler für soziale Bewegungen und ehemaliger Mitarbeiter von Martin Luther King, näher untersucht. Über den von ihm entwickelten "Movement Aktion Plan"8 ist in der Zeitschrift "Graswurzelrevolution"9 in zahlreichen Ausgaben diskutiert worden. Mit dieser Methode will er die Aktivisten von Bürgerinitiativen zu langfristigem strategischen Denken anregen und sie vor allem dazu ermutigen, ihre Erfolge, die sie unweigerlich haben werden, zu erkennen und auf ihnen aufzubauen. Moyer schreibt den Beteiligten verschiedene Rollen zu. Das sind Bürger, Reformer, Rebell und Aktivist für gesellschaftlichen Wandel. Nach dem "Movement Aktion Plan" durchlaufen erfolgreiche soziale Bewegungen acht Stufen, in denen die Aufgaben der Initiativen jeweils unterschiedlich sind und auch das Verhalten der Öffentlichkeit und der Herrschenden ganz spezifische Merkmale aufweist.
Die Aktivisten werden befähigt, jeden Teilbereich und jedes Teilziel der Bewegung zu untersuchen: Welche Erfolge bereits erzielt wurden, welche wirkungsvollen Strategien, Taktiken und Programme zu entwickeln sind, welche kurz- oder langfristigen Ziele zu setzen sind, wie sich die unterschiedlichen Rollen der Aktivisten, Reformer und Bürger am besten ergänzen können und welche Gefahren vermieden werden sollten.
In der ersten Phase der Bewegung, besteht ein bestimmtes Problem oder eine Ungerechtigkeit, welches von der Gesellschaft nicht wahrgenommen wird. In der zweiten Phase werden die Einflussmöglichkeiten genutzt, um nachzuweisen, dass das System versagt. In der dritten Phase der reifenden Bedingungen ist die Bewegung schon deutlich sichtbar, aber trotzdem noch relativ klein. Nach einem "auslösenden Ereignis" kommt es zum Start der Bewegung, der vierten Phase. In dieser Hochzeit der Bewegung entstehen zahlreiche neue Aktionsgruppen und Aktivitäten. Anschließend folgt normalerweise die fünfte Phase: das Empfinden von Versagen bei den Aktiven. Diese hatten während der kurzen Startphase geglaubt, die Herrschenden in direkter Konfrontation stoppen zu können, was aber normalerweise nicht gelingt.
Interessanterweise verläuft dieser Entwicklungsabschnitt meistens paralell mit der sechsten Phase, dem Gewinnen der Mehrheit der Bevölkerung. Daher hat die Bewegung gute Chancen, die siebte Phase, den Erfolg, zu erreichen, wenn sie nicht aufgibt und ein weiteres auslösendes Ereignis geschickt nutzt und eine weitere Massenbewegung in Gang bringt. In der achten und letzten Phase des Weitermachens mit neuen Zielen bauen die Aktionen auf den Erfahrungen und Erfolgen der alten Bewegung auf.
Der an dieser Stelle nur kurz skizzierte MAP sollte nicht als schematische Handlungsanweisung missverstanden werden, denn soziale Bewegungen haben ihre eigene Dynamik. "Der Zweck des Aktionsplans ist es, AktivistInnen Hoffnung und Energie zu geben, die Effektivität von sozialen Bewegungen zu steigern und der Entmutigung entgegenzuwirken, die oft zu individuellem Ausgebranntsein, zum Aussteigen und dem Niedergang sozialer Bewegungen führt", schreibt Moyer. Indem diese Strategie im Gegensatz zur oberflächlichen Propagierung kurzfristiger Erfolge die langfristigen Errungenschaften der sozialen Bewegungen versucht sichern zu helfen, stellt sie einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung räteähnlich organisierter Basisinitiativen10 dar.
Genauer betrachtet gibt es in Deutschland nicht erst seit Wyhl parteiunabhängig agierende Bürgerinitiativen. Bereits in den 50er Jahren gründete der Adenauer-Kontrahent Gustav Heinemann - wir befinden uns ja im Augenblick in der "Gustav-Heinemann-Bildungsstätte" - die Ein-Punkt-Bewegung "Notgemeinschaft für den Frieden Europas" gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands. Die "Kampf-dem-Atomtod-Bewegung" und die Abrüstungsbewegung folgten.
Es ist kennzeichnend für den systemkonformen Charakter auch dieser ersten außerparlamentarischen Bürgerinitiativen, dass aus ihren Reihen heraus eigene Parteien gegründet wurden. In den 50er Jahren war es die "Gesamtdeutsche Volkspartei" (GVP), in den 60er Jahren die "Deutsche-Friedensunion" (DFU). Diese Kleinparteien gingen entweder nach kurzer Zeit in der Großpartei SPD auf oder versanken schnell in die Bedeutungslosigkeit.
Mit der Gründung der Grünen größtenteils aus den Bürgerinitiativen heraus haben sich in mehreren Wellen zehntausende von Aktivisten von ihren ursprünglichen Aktionsformen und Inhalten verabschiedet11. Tausende von grün-alternativen Kommunalpolitikern haben ihre depremierende Machtlosigkeit gegenüber den herrschenden Verhältnissen schmerzlich zu spüren bekommen. Dies führte in der Regel zu äußerst demoralisierenden Erfahrungen, die ich zu Beginn beschrieben habe. Mit dem Prozess der Parlamentarisierung ging insbesondere in den 90er Jahren ein aufrührerisches Protestpotential verloren, weil viele Aktivisten ihre Energie zunehmend in integrativen Parteiapparaten verschwendeten. Dort wurde lebendiger Oppositionsgeist Stück für Stück kleingearbeitet, bis nur noch Resignation und Anpassung übrigblieb.
Die Gründe für die fortlaufende Orientierung an traditionellen Parteiorganisationen liegen unter anderem auch darin, dass es in Deutschland keine eigenständige im Bewußtsein vieler Menschen verankerte libertäre politische Tradition gibt, die Erfahrungen aus vergangenen Kämpfen und problematischen Parteigründungen auf breiter Ebene weitervermitteln würde. Deswegen muss jede Generation von politischen Basisaktivisten immer wieder grundlegende Erfahrungen neu machen und immer wieder neu an den abgebrochenen und verschütteten Diskussionssträngen versuchen anzuknüpfen.
Es kommt also in Zukunft darauf an, einmal erarbeitete Positionen in eigenen Projekten, Einrichtungen und Medien so zu verankern, dass sie nicht gleich bei der nächsten großen Gründungseuphorie für eine neue Partei wieder verloren gehen. Zur Zeit besteht wieder einmal die Gefahr, dass sich aus den Sozialforen und globalisierungskritischen Netzwerken heraus ein Teil der nächsten Generation von Aktivisten in Richtung neue Linkspartei12 verabschiedet.
Dieser Vorgang ist um so bezeichnender, weil der Ruf nach dieser Partei ursprünglich besonders laut aus der mittleren und unteren Funktionärsebene des DGB kam. Die SPD ist als parteipolitischer Bündnispartner faktisch abhanden gekommen und mit der geplanten Neugründung wollen die Unzufriedenen lediglich ihre alte SPD wiederhaben. Bei ihnen fand keine Loslösung von sozialpartnerschaftlichen Politikkonzepten statt und die neoliberale Ideologie wird von ihnen nicht radikal in Frage gestellt.
Die Rechnung, mit einer Linkspartei den Sozialkahlschlag zu stoppen, kann nicht aufgehen. In zwei Jahren werden bereits vor der Bundestagswahl die sozialen Sicherungssysteme ein einziger Trümmerhaufen sein. Dann hilft auch keine Linkspartei mehr. Mit der neuen Parteigründung werden von den Betroffenen der jetzt notwendige Einsatz der klassischen Kampfmittel wie Streiks und direkte Aktionen in den Hintergrund gedrängt.
Der Anpassungskurs der DGB-Gewerkschaften13 hat in den letzten Jahrzehnten nicht nur zu einer völligen Selbstaufgabe eigener Positionen geführt, sondern auch dazu, dass diese Gewerkschaft selbst mit ihrer Beteiligung an der Ausarbeitung der Hartz-Gesetze und der fast einstimmigen Zustimmung ihrer gewerkschaftlich organisierten Parlamentarier zur Agenda 2010 für diesen Sozialraub direkt mitverantwortlich ist.
Nachdem der DGB den europäischen betrieblichen Aktionstag am 2. April 2004 boykottierte und am 3. April die großen Demonstrationen durch rücksichtslose Vereinnahmung lediglich zu seiner eigenen Selbstdarstellung nutzte, müssen Erwerbsloseninitiativen, Anti-Hartz-Gruppen und Sozialforen stärker ihre Autonomie gegenüber dem DGB herausarbeiten, um ihre anders gelagerten Interessen nicht aus dem Auge zu verlieren.
Die Zusammenarbeit mit der marginalen Gewerkschaftslinken innerhalb des DGB´s ist sicherlich weiterhin sinnvoll. Allerdings haben sich seit einem Jahr immer mehr Menschen auf die Suche nach alternativen Modellen von Basisgewerkschaften begeben, wie sie in großem Umfang bereits in Frankreich und Italien erfolgreich praktiziert werden. In diesem Zusammenhang ist es sehr erfreulich, dass die Ortsgruppen und Syndikate der anarchosyndikalistischen Freien ArbeiterInnen Union (FAU)14 zunehmend eine qualifizierte politische Praxis entwickeln und in Zukunft sicherlich einige Erfolge aufweisen werden.
Es ist in der jetzigen Situation nicht mehr sinnvoll, unsere Energien für zweifelhafte Einflussmöglichkeiten bei Großorganisationen einzusetzen, sondern wir sollten nicht vergessen, dass es zur Zeit bereits viele Gruppen und Zusammenschlüsse gibt, die ihre libertären Zielvorstellungen durch den bewussten Einsatz dazu passender politischer Mittel und Organisationsformen vorwegnehmen. Diese Zusammenhänge sollten also gestärkt werden: Dem "von Oben herab" der Herrschenden setzen wir unser "von Unten auf" entgegen!
Horst Blume
Anmerkungen:
1 Nähere Informationen über den Thorium-Hochtemperaturreaktor (THTR), die HTR-Linie weltweit und den Widerstand dagegen sind im "THTR-Rundbrief" erhältlich.
2 Hans-Helmuth Wüstenhagen:"Erfahrungen in Bürgerinitiativen für Umweltschutz" in "Blätter für deutsche und internationale Politik" Nr. 10, 1975, S. 1107
3 zitiert aus: "Die politische Provokation der Bürgerinitiativen" von Roland Roth in "Links. Sozialistische Zeitung" Nr. 122 (Mai 1980) S. 28
4 Nähere Informationen über den BBU sind auf folgender Homepage erhältlich: www.bbu-online.de
5 Orientierungspapier des "Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz e. V." (BBU), 1977
6 In dem Artikel "Die Heimsuchung" in der Zeitschrift "Graswurzelrevolution" Nr. 282 (2003) bin ich in einer Rezension des Buches "Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes" von Michael Steffen ausführlich auf den KB eingegangen. Dies ist nachzulesen unter: www.graswurzel.net
Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, dass sich die KB-Zeitung "Arbeiterkampf" (AK), später nach der Auflösung des KB umbenannt in "Analyse und Kritik", von seiner inhaltlichen Ausrichtung immerhin soweit gewandelt hat, dass heute libertäre Tendenzen überwiegen. Nähere Informationen: www.akweb.de. "Die Heimsuchung" ist auch der Titel eines 1925 erschienenen Buches von Oskar Maria Graf.
7 Holger Strom: "Friedlich in die Katastrophe", 1981, Seite 1212 ff
8 Bill Moyer "Aktionsplan für soziale Bewegungen. Ein strategischer Rahmenplan erfolgreicher sozialer Bewegungen." Verlag Weber, Zucht & Co, 61 Seiten, 5 Euro zzgl. Versand. Bezug: Verlag Weber, Zucht & Co., Steinbruchweg 14a, 34123 Kassel
9 "Graswurzelrevolution. Für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft" erscheint monatlich mit bisher 291 Ausgaben im 32. Jahrgang und ist zu erreichen unter: www.graswurzel.net
In folgenden Ausgaben berichtete diese Zeitung über den "Movement Aktion Plan" (MAP): Nr. 131 (Februar 1989), Nr. 160 (November 1991), Nr. 198 (Mai 1995)
10 Die Stärkung und Stabilisierung von Bürgerinitiativen als wichtiges Zwischenziel erscheint manchen Menschen für eine wegweisende politische Perspektive als zu wenig substanziell. Sie erwarten vielleicht einen großen strategischen Entwurf, wie in Zukunft libertär-sozialistische Politik auszusehen hätte. An großen Worten, was alles geschehen müsste, hat es in der neueren Geschichte der Linken nie gefehlt. Die Terminkalender der "Bewegungs"-Funktionäre sind voll mit Konferenzen und die entsprechenden Zeitungen quellen über mit wohlfeilen Vorschlägen: man hätte, man könnte, man sollte Dieses und Jenes unbedingt gründen, koordinieren, thematisieren, initiieren, organisieren, absprechen oder vereinheitlichen.
Allein die Basis auf der dies geschehen soll, ist trotz guter Ausgangsbedingungen zur Zeit eher dünn. Daran ändert auch die zeitweilig enorme mediale Aufmerksamkeit bei den Treffen der Globalisierungsgegner nicht viel. Wo gibt es denn die Menschen, die wirklich effektiv und kompetent Basisarbeit leisten, die flächendeckend in einem ganzen Stadtteil alle Haushalte mit wichtigen Informationen zu einem bestimmten Thema versorgen und dazu noch alle möglichen gesellschaftlichen Gruppen mit ihrem Anliegen ansprechen? Es sind sehr wenige, die dies tun. Dabei ist es die unabdingbare Voraussetzung für jede Weiterentwicklung.
Die Flugblätter und Plakate vieler linker Gruppen zirkulieren meist nur innerhalb einer bestimmten Szene. Deren Mitglieder sind mit einem Hamster in einem Laufrad vergleichbar. Sie sind zwar irgendwie in Bewegung, kommen aber nicht wirklich von der Stelle. Und solange dies so ist, sollte vollmundig vorgetragenen strategischen Entwürfen eine gehörige Portion Skepsis entgegengebracht werden.
11 Horst Blume: "Wahlboykott - Der Weisheit letzter Schluss?" in der Vierteljahreszeitschrift "Schwarzer Faden" Nr. 0 (1980) und Horst Blume: "Den radikalen Bruch mit den Grünen organisieren" in "Schwarzer Faden" Nr. 20 (1/1986), Anschrift: www.trotzdem-verlag.de
12 Horst Blume: "Wer nicht mehr weiter weiß, gründet einen Arbeitskreis... für eine neue Linkspartei!" in "Graswurzelrevolution" Nr. 289 (Mai 2004)
13 Horst Blume: "Der DGB will den Sozialraub mitgestalten" in "Graswurzelrevolution" Nr. 283 (November 2003)
14 Die "Freie ArbeiterInnen Union" (FAU) hat in ca. 32 Städten Deutschlands Ortsgruppen bzw. Sydikate und gibt seit 27 Jahren die Zeitung "Direkte Aktion" heraus, die alle 2 Monate erscheint. Kontakt: www.fau.org
Buchempfehlung: Clayborne Carson Zeiten des Kampfes |
Das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) und das Erwachen des afro-amerikanischen Widerstands in den sechziger Jahren
Mit einem Nachwort von Heinrich W. Grosse
Aus dem Amerikanischen von Lou Marin
638 Seiten, 28,80 EUR
ISBN 3-9806353-6-8
Verlag Graswurzelrevolution, Birkenhecker Str. 11, 53947 Nettersheim, www.graswurzel.net
Das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) zählt zu den bedeutendsten Organisationen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Seine Kampagnen und direkten gewaltfreien Massenaktionen in den sechziger Jahren spitzten die Kämpfe der US-amerikanischen Schwarzen gegen die rassistische Diskriminierung zu und trieben sie voran.
Clayborne Carson beschreibt erstmals die gesamte Entwicklungsgeschichte des SNCC: Die Erfolge in den Anfangsjahren, als die AnhängerInnen des SNCC aus religiösen oder moralischen Motiven den Glauben in die Kraft der gewaltfreien direkten Aktion und den graswurzelrevolutionären Organisationsansatz teilten. Mit "Sit-Ins", "Freiheitsfahrten" und den Kampagnen zur Eintragung in die WählerInnenlisten griff die Organisation das System der Segregation in den Südstaaten an. Das SNCC stellte in dieser Zeit die dominierende Rolle von Martin Luther King in der Bürgerrechtsbewegung konstruktiv in Frage.
Im Laufe der sechziger Jahre wurden diese gewaltfreien Strömungen - einige von ihnen waren durch libertär-gewaltfreie Ideen geprägt - zurückgedrängt. Das SNCC wurde schließlich von AnhängerInnen eines militanten, separatistischen schwarzen Nationalismus dominiert. Carson stellt diese Entwicklung des SNCC im Gegensatz zu anderen Autoren, deren Bücher zur Geschichte des Widerstands der Schwarzen in deutscher Übersetzung erschienen sind, keineswegs als einen geradlinigen Prozeß der Radikalisierung, sondern vielmehr als Zerfall einer ehemals starken und einflußreichen Organisation dar.
Zeiten des Kampfes ist aber nicht nur die Geschichte einer Organisation der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die in der deutschsprachigen Literatur bislang kaum wahrgenommen wurde. Es ist auch ein Lehrstück über Erfolge und Abwege sozialer Bewegungen.
Carson war selbst Mitglied im SNCC und ist heute Professor für Geschichte an der Stanford University und Direktor des Martin Luther King, Jr., Papers Project. Für sein Buch wurde er von der Organization of American Historians ausgezeichnet.
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